Warum wir Macht, Geschlecht und Gesellschaft neu denken müssen – Die Vision einer androgynen Zukunft
Eine neue Vision vom Menschsein
… der wahre schöpferische Geist ist androgyn.
Virginia Woolf
Ich glaube an eine andere Welt. Eine Welt, in der es keine Rolle mehr spielt, welches Geschlecht jemand hat. Nicht, weil wir geschlechtslos werden, sondern weil Geschlecht keine Begrenzung mehr darstellt. Ich glaube an eine Gesellschaft, in der das Menschsein zählt. In der nicht definiert wird, was du bist, sondern wer du bist, was du trägst, was du gibst, was du willst.
Was bedeutet eine androgyne Gesellschaft?
Diese Gesellschaft wäre androgyn gedacht: nicht uniform, sondern frei von alten Zuschreibungen. Sie wäre ein Raum, in dem Fähigkeiten, Talente, Gefühle und Haltungen mehr wiegen als Rollenbilder, Normen und Erwartungen. Und sie ist nicht nur eine schöne Utopie. Sie ist eine Notwendigkeit.
Macht und Unreife: Wenn Kinder die Welt regieren
Denn was wir derzeit erleben, ist das Gegenteil: Wir leben in einer Welt, in der die Macht nach wie vor ungleich verteilt ist. In vielen gesellschaftlichen Bereichen übernehmen nach wie vor überwiegend Männer Führungsrollen – nicht selten aus einer Haltung heraus, die durch tradierte Rollenerwartungen geprägt ist. Diese verhindert oft Reifung und Selbstreflexion. Statt einer echten Auseinandersetzung mit Verantwortung herrscht oft ein reflexartiges Behaupten von Stärke.
Unreife in Machtpositionen ist kein Randphänomen. Sie ist ein strukturelles Problem. Und sie ist gefährlich. Denn kindliches Verhalten gepaart mit politischer oder wirtschaftlicher Macht bringt keine Lösungen, sondern Eskalationen. Es braucht keine Soziologin, um zu erkennen, dass Menschen wie Donald Trump keine reifen Anführer sind, sondern Jungen mit zu viel Spielzeug. Nur leider heißt das Spielzeug in dieser Welt nicht Holzklötzchen, sondern Atomwaffen, Aktienmärkte und Grenzregime.
Wenn Frauen Macht übernehmen – nicht um zu herrschen, sondern um Raum zu schaffen
Ich glaube: Wenn Frauen mehr Macht übernehmen, dann schaffen sie nicht nur Ausgleich, sondern auch Raum. Raum für Männer, endlich Mensch zu werden. Mensch mit Fragen, Zweifeln, Wünschen. Und nicht länger nur Funktionsträger der Weltordnung.
Aber: Auch Frauen müssen sich befreien. Von der Idee, Opfer zu sein und gerettet werden zu müssen. Wir sind keine Prinzessinnen mehr. Wir wurden ausgeschlossen, kontrolliert, belächelt. Das stimmt. Und ja, wir wurden klein gemacht. Aber heute stehen uns mehr Möglichkeiten offen denn je. Wir dürfen aufhören, uns über das Leid zu definieren. Jetzt ist der Moment, uns selbst zu fragen, was wir sein wollen. Noch nie hatten Frauen in den überlieferten Geschichten – die wir aus Büchern und Medien kennen – so viel zu sagen wie heute.
Also meine Frage an alle Frauen: Was wollen wir sein? Wollen wir weiterhin die geretteten Prinzessinnen bleiben, die ewig auf einen Prinzen warten – bitte mit weißem Pferd? Oder reicht heute ein weißes Cabrio? Oder wollen wir einfach nur die zweite Version des Mannes sein – im schicken Anzug, aber genauso machtorientiert und manchmal gnadenlos?
Oder – und das ist meine Hoffnung – erkennen wir endlich, dass unsere gebende, emotionale, soziale Natur kein Fluch ist, sondern unsere wahre weibliche Kraft – und ja, auch Macht.
Seit wann ist Macht ein Akt des Gebens? Und doch: Wie jedes Prinzip hat auch Macht zwei Seiten. Sie kann nehmen – aber sie muss auch geben. Wenn sie nur nimmt, bleibt bald nichts mehr übrig. Das sehen wir heute: in der Erschöpfung der Natur, im Burnout der Pflegenden, im Zerfall des Sozialen.
Das Patriarchat funktioniert wie ein Einbahnstraßen-System – dominant, wachstumsfixiert, erschöpfend. Was fehlt, ist der ausgleichende Pol: eine Macht, die nährt, schützt, Raum gibt und fordert. Die Gefühle nicht als Schwäche abwertet, sondern als Teil der Wahrheit anerkennt. Eine Macht, die weiß: Rationalität braucht das Gefühl als Grenze.
Diese Macht – unsere Macht – erkennt, was fehlt. Und fordert es ein.
Macht neu denken: Verantwortung statt Dominanz
Diese Kraft ist nicht Herrschaft. Sie ist nicht ein "Imperium schlägt zurück" aus Star Wars. Sie ist ein neues Denken von Verantwortung. Ein neues Verständnis von Macht, das nicht auf Dominanz basiert, sondern auf Verbindung. Um dorthin zu kommen, müssen wir aufhören, Schuld hin- und herzuschieben. Männer sind nicht das Problem. Frauen sind nicht die Lösung. Das Problem ist ein System, das auf Trennung, Konkurrenz und Angst basiert. Und die Lösung ist eine Bewusstseinsveränderung.
Klimakrise als Spiegel gescheiterter Machtverhältnisse
Ich lebe in einer kleinen, sonnigen Welt mit frei laufenden Hühnern und viel Natur. Und trotzdem spüre ich die Gefahr. Die Stille vor dem Sturm. Ich lese Nachrichten über Klimaveränderungen, über das Verschwinden der Wolken, über politische Abgründe. Und ich weiß: Diese diffuse Angst, die ich fühle, ist kein Zufall. Sie ist ein Seismograph. Und sie will ernst genommen werden.
Auch der Klimawandel ist ein Zeichen dafür, dass die Machtstrukturen nicht funktionieren. Unser wachstumsfixiertes, konsumorientiertes System ist nicht zukunftsfähig, sondern führt uns immer weiter in soziale und ökologische Krisen. Nicht Marketing, Verkauf, Industrialisierung – oft männlich dominierte Branchen – werden uns retten, sondern soziale Leistungen, Bildung, Naturnähe – traditionell weiblich geprägte Bereiche, die bisher unterbewertet sind.
Wenn wir diese Bereiche auf eine reale Basis stellen, sozial benachteiligte Gruppen stärken und uns erlauben würden, langsamer zu wachsen, sparsamer mit unseren Wünschen zu sein, radikaler gegenüber wirtschaftlicher Macht und milder gegenüber jenen, die im sozialen Gefüge unten stehen – dann hätten wir vielleicht eine Chance gegen das System, das wir erschaffen haben. Und gegen den Klimawandel.
Lernen von indigenen Kulturen
Warum? In einem androgyn gedachten System, in dem jedes Wesen wichtig ist – nicht aufgrund seiner Rolle, sondern wegen seines Seins – würden soziale Komponenten wichtiger als Geld. Die Gesellschaft würde auf anderen Prinzipien aufgebaut. Vielleicht wären wir dann näher an den indigenen Kulturen, in denen jedes Tier, jede Pflanze heilig ist – nicht, weil sie nützlich ist, sondern weil sie als lebendiges Wesen Würde besitzt.
In Afrika lebt das Volk der BaAka , bei dem Männer und Frauen gleichgestellt sind. Sie leben in tiefer Verbindung mit der Natur. Felder sind nicht eingezäunt, Tiere dürfen mitprofitieren, nach Sonnenuntergang wird kein Feuer gemacht, um Insekten zu schützen. Geschlecht spielt dort keine Rolle – nur das Wohlergehen der Gemeinschaft und der Natur. Und obwohl sie unter einfachsten Bedingungen leben, geht es diesem Volk gut – sogar heute, in unruhigen Zeiten.
Warum sollte das bei uns nicht funktionieren?
Ich glaube daran. Und du?
Die Zukunft ist nicht weiblich. Und auch nicht männlich. Die Zukunft ist androgyn.
Quellen & weiterführende Texte
1. Androgyne Gesellschaft und Geschlechterrollen
Ilona Nord – "Über die Zweideutigkeit einer androgynen Kultur": https://ub01.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/138789/Nord_140.pdf
Christel Frey – "Das Androgynie-Konzept": https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-322-97704-5_3
Armin Züger – "Androgynie": https://phaidra.univie.ac.at/open/o%3A1256088
2. Machtverteilung und Reifung
Sylvia Walby – "Structuring Patriarchal Societies": https://de.wikipedia.org/wiki/Patriarchat_(Soziologie)
Eva Cyba & Marion Löffler – Kritik am Patriarchatsbegriff: https://de.wikipedia.org/wiki/Patriarchat_(Soziologie)
3. Schuldzuweisungen überwinden
Warren Farrell – "Mythos Männermacht": https://de.wikipedia.org/wiki/Warren_Farrell
Alice Schwarzer – Gleichheitsfeminismus: https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Schwarzer
4. Klimakrise und intuitive Angst
Judith Butler – Auswirkungen des Neoliberalismus auf Geschlechterrollen: https://de.wikipedia.org/wiki/Anti-Gender-Bewegung
5. Motivation zum Schreiben und Erschaffen
Anarchafeminismus – Verbindung von Feminismus und Anarchismus: https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchafeminismus
6. Indigene Kulturen & ökologische Weisheit
Die BaAka (Bayaka) – Harmonie mit der Natur, Schutz von Bäumen, Agroforstwirtschaft: https://discover-afrika.com/baaka-peoples/
Green Belt Movement – Wikipedia (spirituelle und ökologische Bewegungen in Afrika): https://de.wikipedia.org/wiki/Green_Belt_Movement
Das Volk der San in Namibia – Adobe Stock: https://stock.adobe.com/es/images/das-volk-der-san-in-namibia/233237498